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Die Hausapotheke

Starre 6-km-Grenze unionswidrig?

§ 29 Abs.1 Apothekengesetz sieht bekanntlich vor, dass einem Arzt für Allgemeinmedizin, der in einem kurativen Einzelvertragsverhältnis zur ÖGK steht, dann eine Konzession zur Errichtung und zum Betrieb einer ärztlichen Hausapotheke zu erteilen ist, wenn sich in der betreffenden (politischen) Gemeinde keine öffentliche Apotheke befindet und wenn „der Berufssitz des Arztes von der Betriebsstätte der öffentlichen Apotheke mehr als sechs Straßenkilometer entfernt ist“. Ausnahmsweise reicht auch eine Entfernung von 4 Straßenkilometern, wenn die Nachfolge eines Hausapothekers angetreten wird.

Auf den Meter genau ...

In der Praxis spielen die Entfernungen von 6000 oder 4000 Metern eine große Rolle: Von den Bezirkshauptmannschaften oder auch von den Landesverwaltungsgerichten, die für die Erteilung der Hausapothekenkonzession zuständig sind, werden oft metergenaue Messungen durch die Straßenmeisterei mit geeichten Messrädern oder gar durch Vermesser beauftragt; auch von den Parteien wird oft eine Vermessung beigebracht. „Gestritten“ wird um jeden Meter, wenn die Entfernungen von 6000 oder 4000 Metern gerade nicht oder nur knapp erreicht werden.

Zu berücksichtigen sind nur ganzjährig befahrbare, öffentliche Straßen. Dies können aber auch Feldwege sein, auf denen nie jemand zur Apotheke fahren würde. Manche Gemeinden oder Bezirkshauptmannschaften erlassen auf solchen Feldwegen dann Fahrverbote, damit die kürzeste Strecke über „normale“ Straßen führt, wodurch in der Gemeinde eine Hausapotheke eröffnen kann. Von Apothekerseite werden derartige Fahrverbote wiederum erbittert bekämpft.

Es hat sich auch eine ausgefeilte Judikatur entwickelt, von wo bis wo zu messen ist: Derzeit hat sich wohl die Ansicht durchgesetzt, dass von der Eingangstür zur Ordination in rechtem Winkel zur Straßenmitte zu messen ist, dann in der Straßenmitte bis zur Apotheke, dann wieder in rechtem Winkel zur Apothekeneingangstür. Gibt es auf der Strecke Einbahnregelungen, ist der Mittelwert der beiden Entfernungen heranzuziehen, ebenso, wenn in einem Kreisverkehr die Strecke in die eine Richtung kürzer ist als in die andere.

Die Standorte für Ordinationen (und auch für Apotheken) werden so gewählt, dass die Entfernungen gegeben sind (oder im Falle des Neubaus einer Apotheke gerade nicht gegeben sind). In Niederösterreich wurde zuletzt sogar ein gesamter Neubaukomplex umgeplant, damit die neu errichtete Ordination mehr als 6 Straßenkilometer von der nächsten öffentlichen Apotheke entfernt ist.

Gerichtliche Entscheidungen

Um Streitigkeiten wegen weniger Meter zu vermeiden, hat das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich in seiner Entscheidung LvWG-050182-2 vom 30.12.2020 judiziert, dass im Hinblick auf die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen Sokoll-Seebacher I und II zur Bedarfsprüfung von öffentlichen Apotheken „eine innerstaatlich festgelegte Bedarfsprüfung oder eine dieser gleichzuhaltende Zugangsbeschränkung zum Arzneimittelversorgungsmarkt nur dann mit der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit … vereinbar ist, wenn diese eine sachadäquat-kohärente Modifikation einer gesetzlich festgelegten ,starren … Grenze‘ ermögliche“. Mit anderen Worten: Wenn es die Umstände zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung erfordern, ist eine Hausapothekenkonzession auch dann zu erteilen, wenn die 6-Straßenkilometer-Grenze nur gering nicht erreicht sei, etwa um 115 Meter. Im Kern gehe es darum, dass der Gesetzeszweck nicht durch formale Marginalitäten vereitelt werde.

Selbstverständlich wurde diese Rechtsansicht von Apothekerseite vor dem Verwaltungsgerichtshof, dem letztinstanzlichen Gericht, bekämpft. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung Ra 2021/10/0081 vom 9.1.2023 – wieder einmal zum Nachteil hausapothekenführender Ärzte oder solcher, die es gerne werden würden – festgehalten, dass er die Rechtsansicht des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich nicht teilt:

Es werde zutreffend geltend gemacht, „dass sich die vom Verwaltungsgericht für seine Begründung herangezogenen Urteile des EuGH … Sokoll-Seebacher II … und Sokoll-Seebacher I … mit der – dem vorliegenden Fall gar nicht zugrunde liegenden – (negativen) Bedarfsprüfungsregelung des §10 Abs.2 Z3 Apothekengesetz befassten, welche (u.a.) im Verfahren zur Erteilung einer Konzession für eine neu zu errichtende öffentliche Apotheke Anwendung findet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits ausgesprochen, dass das System der Bewilligung ärztlicher Hausapotheken gemäß §29 Abs.1 Apothekengesetz mit jenem der Bedarfsprüfung als Voraussetzung für die Erteilung einer Apothekenkonzession gemäß §10 Abs.1 Z2 Apothekengesetz nicht vergleichbar ist. Anders als die Bedarfsprüfung stellt §29 Abs.1 Apothekengesetz auf das Vorhandensein von Arzneimittelabgabestellen in zumutbarer Entfernung ab. Schon aus diesem Grund kann aus den zitierten Urteilen des EuGH für die Bewilligung von ärztlichen Hausapotheken nichts gewonnen werden.“

Kilometergrenzen bleiben

Innerstaatlich ist daher klargestellt, dass es bei den starren 6-Kilometer-Grenzen bzw. der starren 4-Kilometer-Grenze bleibt. Vielleicht bekommt ja der EuGH einmal die Möglichkeit, sich mit diesen starren Grenzen auseinanderzusetzen: Verständlich ist die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs nicht, betont doch auch dieser, dass es auf die Zumutbarkeit der Entfernung ankäme. In Gegenden mit dichten öffentlichen Verkehrsverbindungen zur nächsten öffentlichen Apotheke mag die Distanz von 6 Kilometern zumutbar sein, nicht aber dort, wo es gar keine oder kaum noch öffentliche Verkehrsmittel gibt.

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