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Politisch engagiert

„Wenn man etwas ändern will, muss man sich selbst einbringen!“

In Tirol kennt so gut wie jeder Arzt OMR Dr. Edgar Wutscher, ist er doch schon seit mehr als 40 Jahren in der Tiroler bzw. Österreichischen Ärztekammer aktiv. Seit den diesjährigen Ärztekammerwahlen ist der sympathische Tiroler nun Obmann der Bundeskurie der niedergelassenen Ärzte. Wir durften mit ihm über seinen Lebensweg, seine Erfolge und seine Ziele in der neuen Funktion sprechen.

Herr Dr. Wutscher, wie sind Sie eigentlich zur Medizin gekommen?

E. Wutscher: Das war Zufall. Eigentlich wollte ich Architektur studieren. Zu meiner Zeit war dieses Studium jedoch sehr überlaufen. Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen, aber in der Medizin war das damals anders: Man musste sich sechs Wochen vor Semesterbeginn zum Anatomie-Sezierkurs anmelden, und wenn man diesen belegen konnte, war das die Eintrittspforte für das Medizinstudium. Genau das habe ich getan – mit dem Hintergedanken, mich mit einem festen Medizin-Studienplatz in der Tasche parallel weiter um die Architektur zu kümmern. Ich habe aber dann schon gleich am Anfang gesehen, dass mir das Medizinstudium recht gut gefällt.

In Windeseile habe ich das Medizinstudium abgeschlossen, konnte dann im Krankenhaus Zams den Turnus absolvieren, und danach hat man mir eine Stelle in der Anästhesie angeboten, die ich angenommen habe. Obwohl mir das Fach sehr zugesagt hat, war mir klar: Wenn in Tirol eine allgemeinmedizinische Stelle frei wird, bei der ich sehr viel Unfallchirurgie machen kann, dann muss ich wechseln. Das war eigentlich nicht zu erwarten, trotzdem hat sich eine Stelle in Sölden aufgetan. Ich habe mich beworben und sie bekommen. Zugegeben: Ich war der einzige Bewerber.

Auch rückblickend empfinde ich die allgemeinmedizinische Praxistätigkeit in Sölden als optimal: Im Winter musste ich natürlich aufgrund der Saison 24/7 arbeiten, aber nach Saisonende – Ende April, Anfang Mai – ist es locker geworden, und ich konnte sehr viele Dinge, die mir heute noch gefallen – Gesundenuntersuchungen oder bestimmte Vorsorgethemen in der Ordination –, in aller Ruhe und Gründlichkeit durchführen.

Kann man daraus also schlussfolgern, dass Ihr Herz schon immer für die Allgemeinmedizin geschlagen hat?

E. Wutscher: Ja, für die Allgemeinmedizin und Unfallchirurgie. Die Anästhesie hat sich zunächst wegen des Jobangebots ergeben, aber ich muss sagen, ich war nach kurzer Zeit schon sehr froh über diese Ausbildung, weil sie sich als äußerst wertvolle Bereicherung des allgemeinmedizinischen Versorgungsniveaus herausgestellt hat. Auch heute noch – als Notarzt und in der Praxis – profitiere ich davon. Und ob Schulterluxationen, Unterschenkelbrüche oder Schmerztherapie plus Behandlungen: Auch von der Unfallchirurgie konnte ich als Primärbehandler vieles in die Praxis mitnehmen.

Auch Ihre Tochter (Anm. d. Red.: Dr. Sabine Haupt-Wutscher) ist als Allgemeinärztin tätig. Hat sie Ihre Praxis übernommen oder betreiben Sie diese noch gemeinsam?

E. Wutscher: Es ist viel komplizierter. 2019 habe ich den Kassenvertrag für die Praxis in Sölden zurückgelegt. Kurz davor kam ich zufällig mit einer Kollegin, die als Wahlärztin in Obergurgl praktizierte, ins Gespräch und erzählte ihr, dass sie nach dem Tiroler Punkteschema mit meiner Niederlegung eine Kassenstelle erwarten kann. Als Mutter von zwei kleinen Kindern sah sie sich nicht in der Lage, eine volle Kassenstelle zu betreuen, also habe ich ihr angeboten, mit ihr gemeinsam in der Praxis zu arbeiten. Und so kam es dann auch: Ich habe gefühlt am 30. April 2019 die Ordination in Sölden zugesperrt und bin am 2. Mai in die Ordination in Obergurgl eingezogen, wo ich seitdem zwei- bis dreimal in der Woche Patienten betreue. Meine Tochter hat in Zirl eine allgemeinmedizinische Kassenpraxis eröffnet, und auch da bin ich ca. zweimal in der Woche.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit von zwei Generationen?

E. Wutscher: Das war und ist bei uns ganz unkompliziert. Als ich noch die Kassenpraxis in Sölden hatte, hat sie mich immer wieder vertreten. Jetzt bin ich in ihrer Ordination ein Vertreter und sie ist die Chefin. Aber ich glaube, sie ist schon froh, wenn sie einen erfahrenen Hasen – sei es im Sinne von Abrechnung, sei es im Sinn von Praxisorganisation – fragen kann. Jedoch war es nie mein oder ihr Ansinnen, dass ich mich da aktiv einmische und etwas vorschreibe. Ich denke, deswegen funktioniert es auch so gut. Bei meiner Tochter kümmere ich mich z.B. viel um Vorsorgeuntersuchungen, was ich wahnsinnig gerne tue – quasi eines meiner großen Hobbys. Zwischendurch flitze ich dann noch nach Wien oder nach Innsbruck.

Ein wahnsinniges Pensum …

E. Wutscher: Nein, das ist kein Wahnsinn, aus zwei Gründen: Erstens freut mich die Arbeit einfach riesig. Und zweitens: Da ich nicht mehr Praxisinhaber bin, kann ich theoretisch sagen, jetzt habe ich keine Lust mehr. Allein dieses Bewusstsein, dass es nicht sein muss, bringt sehr viel. Aber noch mehr erfüllt mich mit Glück – und das sage ich aus tiefster Überzeugung –, dass ich jeden Tag in der Früh aufwache und mich auf die Arbeit freue, gerne in die Ordination fahre und nebenbei auch gern die Standespolitik mache.

Im Internet findet man, dass Sie seit 1982 als Allgemeinarzt tätig sind und seit 1978 als Funktionär in der Tiroler Ärztekammer und in der Ärztekammer allgemein. Die Politik dürfte Ihnen ein Anliegen sein, und das war offensichtlich schon immer so. Wie kam es dazu?

E. Wutscher: Meine Eltern, insbesondere mein Vater, haben immer zu uns Kindern gesagt: „Wenn ihr etwas ändern und etwas erreichen wollt, dann müsst ihr euch selber einbringen.“ Das war ein basaler Zugang zu meiner Ärztekammertätigkeit.

Wie ich dazugekommen bin, ist eigentlich eine abenteuerliche Geschichte: Ich habe als ganz junger Turnusarzt von der Kammer etwas gebraucht und bin von Zams nach Innsbruck gefahren. Ich betrete das Haus, da rufen zwei Herren – der damalige Ärztekammerpräsident Winkler und der Finanzreferent – aus dem ersten Zimmer heraus: „Was brauchen Sie, was wollen Sie?“ Ich ging also hinein und brachte ihnen mein Anliegen näher. Worauf sie mit: „Und Sie sind Turnusarzt? Genau Sie brauchen wir! Wir stellen Sie als Turnusarzt auf!“ entgegneten. Ich bin dann auf die Turnusärzteliste der – damals noch – Tiroler Einheitsliste und quasi in Ermangelung anderer schon nach der 1. Wahl in den Vorstand der Tiroler Ärztekammer gekommen. Ich wurde Turnusärztevertreter in Tirol und in der Österreichischen Ärztekammer. So bin ich in die Standespolitik gekommen, und seit damals hat sie mich nicht mehr losgelassen.

Gibt es etwas, das Sie in den letzten Jahren politisch erreicht haben, worauf Sie besonders stolz sind?
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01 Dr. Wutscher bei der Kommunalmesse 2022 in Wels

E. Wutscher: Besonders stolz … das klingt immer so überheblich. Worauf ich allerdings wirklich stolz bin, ist die Einführung des Tiroler Punktesystems für die Vergabe von Kassenstellen. Ende der 1970er-Jahre war es mir ein großes Anliegen, für die jungen nachkommenden Ärzte ein Schema für die Vergabe von Kassenstellen zu schaffen, das objektiven Kriterien entspricht und nicht vom Bürgermeister, der Gemeinde oder der Sozialversicherung beeinflusst wird.

Damals habe ich ein Punkteschema entwickelt, das sich natürlich über die Jahre weiterentwickelt hat, aber heute noch verwendet wird.

In den letzten Jahren war mir ein einheitlicher Leistungskatalog ein Anliegen. Ich durfte dabei eine Arbeitsgruppe bestehend aus 200 Ärzten leiten, die nun einen modernen und den aktuellen medizinischen Anforderungen entsprechenden Leistungskatalog erarbeitet hat – gerade sind wir damit in Verhandlung mit der Gesundheitskasse. Das ist eine tolle Sache, war allerdings eine Riesenarbeit.

Was mich noch sehr freuen würde, ist, wenn endlich die Anerkennung des Facharztes für Allgemeinmedizin käme. Im Jahr 1992 in Schruns hat die Ärztekammer den Beschluss dazu gefasst und seitdem ist doch eine bescheiden kurze Zeit vergangen. Das wäre schon eine tolle „Geburt“ für mich, besonders im Hinblick darauf, dass Dr. Wechselberger, der bis Februar dieses Jahres Präsident der Tiroler Ärztekammer war, und ich uns doch schon geraume Zeit dafür einsetzen.

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02 Dr. Steinhart und Dr. Wutscher bei der Vorstellung des Leistungskatalogs im Mai 2021

Sie wurden nun zum Obmann der Bundeskurie der niedergelassenen Ärzte gewählt, wozu wir herzlich gratulieren. Gibt es besondere Ziele, die Sie sich für die nächsten fünf Jahre gesetzt haben?

E. Wutscher: Ich darf zunächst feststellen, dass mich die Nominierung sehr geehrt hat und dass es mich unheimlich gefreut hat, dass ich als einziger Kandidat vorgeschlagen und einstimmig gewählt wurde. Da ich mit Dr. Steinhart viele Jahre und die letzten fünf Jahre sehr intensiv mit der Bundeskurie zusammengearbeitet habe, freut es mich umso mehr, dass wir jetzt – er als Präsident und ich als Obmann der Bundeskurie niedergelassener Ärzte – gemeinsam arbeiten dürfen.

Aufgaben, die ich mir gestellt habe und die wir gemeinsam zu erfüllen versuchen, sind: 1. Wir müssen weiterhin klar darlegen und dafür arbeiten, dass der Arztberuf ein freier Beruf ist und entsprechend wertgeschätzt und anerkannt wird. 2. Es muss auch weiter gelingen, die Kassenarzttätigkeit so zu modernisieren und zu attraktivieren, dass junge Leute wieder mit Freude in die Kassenmedizin einsteigen. 3. Die Wahlärzte sind bei manchen Politikern, aber auch bei Vertretern der Sozialversicherungen ein bisschen in Verruf gekommen. Die Wahlärzte müssen weiter geschützt werden, die haben ihre Bestätigung in Österreich in der Versorgung und man muss es einfach akzeptieren, dass jemand als Wahlarzt tätig sein will. Das sind Punkte, die mir sehr am Herzen liegen.

Zu den Wahlärzten: Da gab es die Diskussion, dass das Modell Deutschland doch so toll wäre. Was halten Sie davon?

E. Wutscher: Völliger Unsinn. Da gibt es nicht einmal was zu diskutieren. Kurz und schmerzlos.

In einem früheren Interview zum Ärztemangel am Land meinten Sie, dass die Versorgungssituation doch eher in den großen Städten prekär ist, nur dass man es am Land eher merkt. Wie sehen Sie das heute?

E. Wutscher: Vor ein paar Jahren hieß es: Das große Problem ist, Allgemeinmediziner aufs Land zu bringen, weil es so exponiert ist und weil mehr Dienste zu machen sind. Das hat sich eigentlich gewandelt. Wenn ich sehe, dass wir heute in vielen Städten einen eklatanten Mangel an niedergelassenen Ärzten haben, dann kann man nicht mehr sagen, es ist die Peripherie, die die jungen Ärzte nicht interessiert, sondern es ist das Fach, über das sie sich im Moment nicht drübertrauen. Wels, Kufstein, Telfs – das sind alles relativ große Städte –, die haben eklatante Problem, weil sie keine Ärzte mehr bekommen; das zieht sich durch Land und Stadt.

Das heißt, die Arbeits- und die Kassenbedingungen sind das Problem und nicht die Örtlichkeit?

E. Wutscher: Ich glaube schon, ja. Und zum Teil ist es möglicherweise die Sorge, dass sich junge Ärzte mit ihrer derzeitigen Ausbildung nicht ausreichend vorbereitet fühlen auf die Übernahme einer Kassenstelle, wo sie freie Unternehmer sind. Hier versuchen wir anzusetzen: Wir erweitern jetzt die Lehrpraxis. Bis zuletzt war vorgeschrieben, als Allgemeinmediziner ein halbes Jahr Ausbildung in der Lehrpraxis zu machen; mit 1. Juli ist dies auf neun Monate erhöht worden. Zuletzt ist das Ziel, die Ausbildung auf fünf Jahre zu erweitern und davon zwei Jahre in einer oder mehreren allgemeinmedizinischen Praxen zu verbringen. Denn: Allgemeinmedizin erlerne ich beim Allgemeinmediziner und nicht in spezialisierten Kliniken.

Die MFG hat den Einzug in die Ärztekammer geschafft. Wie sehen Sie das?

E. Wutscher: Das ist Demokratie, und die Demokratie muss aushalten, dass Personen, die eine andere Auffassung von medizinischer Versorgung haben, gewählt werden und in den entsprechenden Gremien präsent sind. Wir müssen auch auf deren Wünsche, Erklärungen und Beschwerden reagieren und entsprechend auch Antworten finden.

Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass das grundvernünftige Menschen sind, die für eine Diskussion offenstehen. Und so wie ich mir gern deren Argumente anhören werde und anhören muss, so erwarte ich auch, dass sie unsere Argumente und Einstellungen anhören und dass wir einen demokratischen Konsens finden.

Was würden Sie sich – abgesehen vom Facharzt – für die Zukunft der Allgemeinmedizin wünschen?

E. Wutscher: Ich wünsche mir wirklich – das betrifft nicht nur die Allgemeinmedizin –, dass wir endlich wieder eine ehrlich gemeinte Anerkennung und Wertschätzung erfahren. Nicht nur in politischen Sonntagsreden, sondern auch in der täglichen Arbeit. Ab und zu habe ich den Eindruck, dass viele Vertreter der Meinung sind, die Ärzte sitzen alle auf einem Goldesel. Viele wollen überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, dass wir immer für unsere Patienten da sind.

Rückblickend gesehen: Ist es gut, dass Sie doch nicht Architektur studiert haben?

E. Wutscher: Das kann ich mit tiefster Überzeugung sagen. Es wäre vollkommen gelogen, wenn jemand über mich schriebe: „Schon in der Wiege hat er geschrien: Nur Medizin und sonst nichts.“ Aber wahrscheinlich hat es irgendjemanden gegeben, der mich in diese Richtung gelenkt hat. Jedenfalls war mir das Glück sehr gewogen, und ich bereue keinen Tag, dass ich Allgemeinarzt geworden bin.

Vielen Dank für das Gespräch!

Bericht:

Dr. Katrin Spiesberger

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