
8. Juli 2020
Die SARS-CoV-2-Pandemie aus hausärztlicher Sicht
Primärversorgung ist systemrelevant!
Dr. Susanne Rabady ist niedergelassene Allgemeinärztin in Windigsteig, Niederösterreich, und Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (OEGAM). Seit dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie hat sie noch eine weitere Aufgabe: Sie gehört dem Beraterstab im Gesundheitsministerium an. Im Interview spricht sie über ihre Aufgaben dort und die Rolle der Allgemeinärztinnen und -ärzte bei der Bewältigung der Pandemie.
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Welche Aufgaben haben Sie im Beraterstab der Covid-19-Task-Force?
S. Rabady: Der Beraterstab ist ein Expertengremium, mit dem sich der Minister berät. Wir haben keine Entscheidungen zu treffen, wir legen einfach nur unsere unterschiedlichen Expertisen aus verschiedenen Gebieten der Medizin zusammen und versuchen, damit ein Gesamtbild zu formen, das dem Minister, der ja viele Faktoren abzuwägen hat, und nicht nur die medizinischen Aspekte, den Entscheidungsprozess erleichtert. Meine Kompetenz ist die hausärztliche Primärversorgung. Die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut. Es ist ein seriöser, verantwortlicher und reflektierter Prozess, getragen vom Bestreben, die schwierige Entscheidungsfindung zu erleichtern.
Wie verbinden Sie Ihre praktische Tätigkeit mit der Arbeit im Beraterstab?
S. Rabady: Die Mitarbeit dort ist kein Vollzeitjob, sondern kommt phasenweise auf mich zu. Derzeit haben wir eine Sitzung pro Woche, zwischendurch geht der Austausch über E-Mail. In der Anfangszeit und zu Spitzenzeiten der Pandemie war es mehr. Meine Patienten wurden aber trotzdem lückenlos betreut, denn wir arbeiten hier in einer Gemeinschaftspraxis.
Welchen Beitrag leisten Allgemeinmediziner bei der Bewältigung der Corona-Pandemie?
S. Rabady: Kurz gesagt: Wir haben das getan, wovon wir schon lange sagen, dass die Primärversorgung es leisten kann und will: Wir waren die Stelle für den Erstkontakt und die Patientenführung. Im Gesundheitswesen waren die Allgemeinmediziner sicher mit am stärksten betroffen, denn sie mussten zusätzlich zur Betreuung von Covid-19-Patienten die Regelversorgung aufrechterhalten. Die Krankenhäuser haben die Regelversorgung zurückgefahren, um genügend Kapazitäten für schwere Fälle der Covid-19-Erkrankung zu haben. Viele dieser Aufgaben haben Hausärzte übernommen, vor allem die Abklärung und Zuordnung, welcher Schritt als nächster für die Patienten sinnvoll ist. Denen, die eine stationäre Behandlung brauchten, konnten wir sie vermitteln. Unnötige Krankenhausaufenthalte konnten aber vermieden werden – und das wollen wir auch in „normalen“ Zeiten erreichen. Ein großes Problem war, dass viele Patienten verunsichert waren und sich nicht in die Ordinationen getraut haben – oder angenommen haben, dass auch wir Hausärzte nicht da sind.
Allgemeinmediziner stehen, neben beispielsweise den Pflegeberufen, an vorderster Front, was den Kontakt mit potenziell Coronainfizierten angeht, und unterliegen daher besonderen Schutzmaßnahmen. Wie hat die Covid-19-Krise die Arbeit der Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner verändert?
S. Rabady: Wir haben in der Krise systemrelevante Aufgaben übernommen, die die Allgemeinmedizin leisten kann und in vielen Ländern auch leistet. Man muss aber auch deutlich sagen, dass wir dies unter erschwerten Bedingungen getan haben. Wir mussten in unglaublich kurzer Zeit die Organisation der Praxen komplett verändern. So mussten beispielsweise alle, die das noch nicht hatten, auf Terminordination und primären Telefonkontakt umstellen. Und Praxen mit Terminvergabe mussten verhindern, dass Patienten zum Abholen eines Rezepts oder einer Überweisung ohne Termin in die Ordination kommen. Außerdem mussten wir lernen, mit den Schutzmaßnahmen umzugehen und vieles telefonisch oder per Videokonsultation abzuwickeln. Um den nötigen Mindestabstand für die Patienten, die in die Ordinationen kommen, zu gewährleisten, mussten – ebenfalls innerhalb kurzer Zeit – entsprechende Räumlichkeiten geschaffen werden. Dafür haben sich manche Kollegen sehr kreative Lösungen einfallen lassen. Wir geben Medikamente zum Beispiel jetzt durch ein Fenster aus, damit die Patienten die Ordination nicht betreten müssen. Die Patienten haben das alles mit großer Heiterkeit mitgemacht. Nicht lustig war das Fehlen wesentlicher Dinge.
Sie sprechen die mangelnde Verfügbarkeit von Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln an, die in vielen Ordinationen ein Problem war. Ist dieses Problem inzwischen – und auch auf längere Sicht – gelöst?
S. Rabady: Anfangs war für niemanden genug Schutzausrüstung da. Wir haben gerade in der ersten Zeit – wie viele andere Kollegen auch – eine Welle der Solidarität erfahren. Uns haben Betriebe und Privatpersonen freiwillig Schutzmasken gebracht. Dafür waren und sind wir sehr dankbar, aber darauf kann man im Gesundheitswesen nicht aufbauen.
Wenn ich richtig informiert bin, dann dürfte zumindest in den meisten Krankenhäusern das Problem inzwischen gelöst sein. Bei den Niedergelassenen ist es aber noch immer nicht zufriedenstellend. Ich frage mich, ob es ein Verteilungsschema gibt, nach dem Schutzkleidung zugeteilt wird, und ob wir dort aufgeführt sind. Wir in der Primärversorgung sind aber diejenigen, die den Erstkontakt mit potenziell Coronainfizierten haben.
Ein anderes Problem war, dass auch nicht ausreichend Testkits vorhanden waren …
S. Rabady: Richtig. Anfangs bestand ein echter Mangel an PCR-Tests für den Virusnachweis. Dann konnte man sich plötzlich in Labors testen lassen, wenn man dafür privat zahlte. Für die niedergelassenen Ärzte waren die PCR-Tests aber nach wie vor nicht verfügbar. Das sind Lernprozesse, die wir durchlaufen. Wir müssen jetzt schauen, was wir daraus gelernt haben, und eine gute Vorbereitungsstrategie für eine eventuelle nächste Welle entwickeln. Dazu gehört, dass wir eine klare und vernünftige Teststrategie brauchen, die den Primärversorgungsbereich mit einbezieht. Die Strategie muss in ganz Österreich gleich sein und sie muss bekannt gemacht werden, damit jeder weiß, was zu tun ist.

In Zukunft müssen ausreichend Testkits für alle niedergelassenen Ärzte zur Verfügung stehen.
Haben Sie Erkenntnisse über vermehrte Covid-19-Erkrankungen bei Hausärzten und Ordinationspersonal?
S. Rabady: Mir sind dazu keine Zahlen bekannt, außer von einem Kollegen, der schon zu Anfang der Infektionswelle gestorben ist. In meiner Umgebung ist keiner der Kollegen erkrankt, aber es wird ganz sicher etliche geben – wir waren ja kein Hotspot.
Österreich war eines der ersten Länder in Europa, das vergleichsweise strenge Regelungen zur Eindämmung der Pandemie verfügt hat. Wenn Sie die Vorkommnisse Revue passieren lassen: Wie haben Sie die Entschlussfassung dazu und deren Umsetzung erlebt?
S. Rabady: Ich denke, dass wir es in Österreich gut gemacht haben und auch ein Vorbild für andere Länder waren, die solche Beschränkungen erst später eingeführt haben. Es herrschte immer eine große Einigkeit, dass man die Infektion keinesfalls außer Kontrolle geraten lassen darf. Wir hatten natürlich das Beispiel von Italien und später auch UK vor Augen, wo das Geschehen zu spät richtig eingeordnet wurde und das Virus sich weit verbreiten konnte, bevor wirksame Maßnahmen ergriffen wurden. Das galt es in Österreich unbedingt zu vermeiden.
Österreich hat, ebenfalls als eines der ersten Länder in Europa, Lockerungen der strengen Maßnahmen eingeführt. Wie hat sich dies in der Allgemeinarztpraxis ausgewirkt?
S. Rabady: Bis jetzt haben wir keinen Anstieg der Infektionszahlen beobachtet. Die Leute haben gelernt, mit den Schutzmaßnahmen umzugehen. Ich beobachte das auch in den Betrieben, die ich als Arbeitsmedizinerin besuche: Die Menschen weichen einander aus, halten Abstand und tragen Masken, sobald sie näher an andere herankommen. In meinem Umfeld erlebe ich eine hohe Akzeptanz der Maßnahmen, was sich auch mit den Umfragen deckt.

An die Stelle persönlicher Arztbesuche trat, wo immer möglich, der Kontakt per Telefon oder Internet.
Von anderen Ärztegruppen hört man, dass bei ihnen die Patientenzahlen teils so stark zurückgegangen sind, dass sie in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Wie sieht es bei Haus- und Allgemeinärzten aus?
S. Rabady: Dazu kann ich nichts Konkretes sagen. Ich weiß nur, dass mehr als 90 Prozent der Hausärzte ihre Ordination offengehalten haben, für ihre Patienten da waren und sich sehr aktiv um sie gekümmert haben. Insgesamt sind zwar weniger Patienten gekommen, auch weil viele dachten, die Ordinationen seien geschlossen, aber der Arbeitsaufwand ist gleich geblieben – oder sogar gestiegen, weil alles sehr viel mühsamer war. Auch hier braucht es einen Lernprozess. Es ist essenziell, dass die Regelversorgung in solchen Krisenzeiten gewährleistet ist – immer unter der Prämisse, dass wir ausreichend geschützt sind.
Die Angst vor Covid-19 überschattet derzeit auch andere, ebenso wichtige gesundheitliche Probleme – so wurden etwa seit März statistisch gesehen weniger Herzinfarkte in Österreich dokumentiert, weil die Patienten nicht zum Arzt gegangen sind. Mit welchen Maßnahmen sollte hier gegengesteuert werden, und welche Unterstützung erwarten Sie sich dafür von der Regierung und den Sozialversicherungen?
S. Rabady: Auch wir hatten unter anderem Patienten mit schwerer Lungenentzündung, die sich tagelang nicht zum Arzt oder ins Krankenhaus getraut haben. Das darf nicht sein! Es ist einerseits eine Frage der Information: Wir müssen den Menschen, unter anderem mithilfe der Medien, klar machen, dass sie den Hausarzt kontaktieren sollen, wenn sie sich krank fühlen – und das unbedingt telefonisch. Die weiteren Maßnahmen werden dann gemeinsam besprochen und entsprechend eingeleitet.
Auf der anderen Seite müssen wir die Strukturen im Primärversorgungsbereich ausbauen und stärken. Das fängt mit der Schutzausrüstung an. So viel Respekt und Wertschätzung für unsere Berufsgruppe muss sein, dass wir in dieser Hinsicht Priorität bekommen, denn wir sind die Ersten, die mit den Patienten in Kontakt sind.
Welche Konsequenz erwarten Sie sich aus der Krise für den Stellenwert und die Wertschätzung, die Allgemeinmediziner in unserem Gesundheitssystem haben?
S. Rabady: Es braucht ein starkes öffentliches Gesundheitssystem und eine gut ausgebaute Primärversorgung. In Österreich stehen wir im Vergleich zu anderen Ländern noch gut da, weil noch recht wenig privatisiert wurde. Aber das heißt nicht, dass kein Verbesserungsbedarf bestünde. Man muss die Strukturen in Ruhezeiten schaffen, nicht erst, wenn die Krise schon da ist. Wenn man die richtigen Erkenntnisse aus den vergangenen Wochen zieht, gibt es keinen Grund mehr, dass es bei der nächsten Pandemie nicht funktioniert.
Ich wünsche mir, dass die Primärversorgung als integraler Bestandteil des Gesundheitswesens gesehen wird, deren Kompetenzen man wahrnimmt und um deren Ausrüstung und Ausstattung man sich entsprechend kümmert. Das gilt ebenfalls für die Honorare, die an die Facharzthonorare angepasst werden müssen. Das ist nötig, um junge Ärzte für den Beruf des Hausarztes zu gewinnen.
Glauben Sie, dass in dieser Richtung schon ein Umdenken begonnen hat?
S. Rabady: Ich denke, das braucht noch Zeit. In den vergangenen Wochen war verständlicherweise alles auf die Spitäler fokussiert und ob die Intensivstationen die steigenden Zahlen an Covid-19-Patienten aufnehmen können. Damit dies auch bei zukünftigen Krisen gelingt, ist eine gute Primärversorgung notwendig, die die Spitäler entlastet. Die Primärversorgung ist systemrelevant!
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte:
Dr. Corina Ringsell
Unsere Gesprächspartnerin:
Dr. Susanne Rabady
Allgemeinärztin
Windigsteig
E-Mail: susanne@rabady.at