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Über die medizinische Betreuung hinaus

Social Prescribing

Die Primärversorgung dient als erste Anlaufstelle bei gesundheitsrelevanten Fragen und Problemen. Studien zeigen, dass viele Kontakte mit dem Hausarzt nicht nur wegen eines medizinischen Problems erfolgen. Allgemeinmediziner werden häufig wegen anderer gesundheitsrelevanter Anliegen konsultiert, die über die kurative Medizin hinausgehen. Dies fordert Patienten und Mitarbeiter in der Primärversorgung gleichermaßen heraus – oft auch deshalb, weil vorhandene regionale Angebote nicht immer bekannt sind.

Ursprung von Social Prescribing

Unter dem Motto „There is more than medicine“ wird Social Prescribing bereits seit den 1990er-Jahren in Großbritannien praktiziert. Konkret sieht der Ansatz dort so aus, dass Patienten mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen, bei denen eine medizinische Behandlung zu keiner Verbesserung führt bzw. soziale Isolation die Beschwerden zusätzlich verstärken könnte, mittels „Überweisung“ an lokale, nichtklinische Zentren unterstützt werden.

Wesentlicher Impuls für Social Prescribing war und ist die Erkenntnis, dass soziale Bedürfnisse bzw. Belastungen von Patienten einen wichtigen Einfluss auf deren Gesundheit haben, diese aber in der Gesundheitsversorgung nur unzureichend adressiert werden. Social Prescribing gilt als vielversprechender Ansatz, um die psychosozialen Bedürfnisse und die soziale Gesundheit von Menschen verstärkt in den Fokus zu stellen und insbesondere auch für benachteiligte und belastete Bevölkerungsgruppen den Zugang zu gesundheitsförderlichen Angeboten sicherzustellen. Dies trägt nicht nur zu mehr Wohlbefinden der betroffenen Personen bei, sondern unterstützt sie auch dabei, sich aktiv an der medizinischen Behandlung zu beteiligen.




Von der Arbeitsberatung bis zur Wandergruppe

Social Prescribing in der Praxis

Social Prescribing ist ein Interventionsansatz in der Primärversorgung, der dazu dient, Patienten in Hinblick auf ihre nicht medizinischen (insbesondere sozialen, emotionalen oder praktischen) Bedürfnisse an einen sogenannten Link Worker zu „überweisen“. Diese spezialisierte Fachkraft hat eine Lotsenfunktion, sie identifiziert nicht medizinische Maßnahmen und Aktivitäten zur Verbesserung des Wohlbefindens des Patienten und vermittelt diesen dorthin. Das Spektrum der dafür genutzten Angebote ist sehr breit und reicht von lokal zur Verfügung stehenden Gesundheitsförderungsmaßnahmen, Bewegungsprogrammen oder Ernährungsberatung über Sozial-, Schuldner-, Arbeits- oder Wohnberatung bis zu Gemeinschaftsaktivitäten wie Seniorentanzen, Wandergruppen oder Nachbarschaftsnetzwerke. Dabei ist zu beachten, für welche konkrete Zielgruppe die Angebote sind (z.B. Alter, Thema, Geschlecht), wie diese zu erreichen ist und welche Zugangsvoraussetzungen es gibt (z.B. Warteliste, Teilnahmekosten).




2021: Förderung erster Projekte durch das Gesundheitsministerium

Seit einigen Jahren wird Social Prescribing auch in Österreich zunehmend bekannter. Umsetzungserfahrungen gab es bis vor Kurzem allerdings nur wenige. Aus diesem Grund stellte das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGKP) 2021 im Rahmen der „Gesundheitsförderung 21+“ Mittel zur Verfügung, um den Auf- und Ausbau von Social Prescribing in Einrichtungen der Primärversorgung zu unterstützen, erste Umsetzungserfahrungen zu sammeln und fachliche Grundlagen für die Weiterentwicklung und Verbreitung des Ansatzes in Österreich zu erstellen. Die Gesundheit Österreich GmbH administrierte die Fördermittel und begleitete die 9 Fördernehmer von Jänner bis Dezember 2021 beim Auf- und Ausbau von Social Prescribing in ihren Einrichtungen. Das daraus entstandene Handbuch fasst die gesammelten Projekterfahrungen und Ergebnisse des Projektcalls Social Prescribing in der Primärversorgung zusammen (s. Praxis-Tipp).

Umsetzung im Praxisalltag

In einem ersten Schritt stellt eine Fachkraft im Primärversorgungsbereich (meist der Allgemeinmediziner) einen Bedarf in Hinblick auf nichtmedizinische Bedürfnisse fest. Sie verweist dann den entsprechenden Patienten an den sogenannten „Link Worker“. Diese Vermittlungsfunktion kann in der Einrichtung von unterschiedlichen Berufsgruppen übernommen werden, zum Beispiel von Sozialarbeitern, Diätologen, Ergotherapeuten – oder auch einem größeren Link-Working-Team. Der Link Worker bespricht in der Folge in einem bzw. mehreren persönlichen Gesprächen oder Telefonaten die Situation und die spezifischen – sozialen, emotionalen oder praktischen – Bedürfnisse mit dem Patienten. Er informiert diesen über die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und unterstützt ihn dabei, die jeweils passenden „personalisierten“ Lösungen zu finden, die seine Gesundheit und sein Wohlbefinden verbessern. In Abstimmung mit dem Patienten wird auch beim Kontakt mit diesen weiterführenden Angeboten und Aktivitäten unterstützt und vermittelt. Es werden dabei häufig Dienstleistungen genutzt, die vom Freiwilligen-, Gemeinschafts- und Sozialunternehmenssektor bereitgestellt werden. Das Spektrum der möglichen Angebote reicht von lokalen Gesundheitsförderungsmaßnahmen, Bewegungsprogrammen oder Ernährungsberatung über Sozial-, Schuldner-, Arbeits- oder Wohnberatung bis zu Aktivitäten wie Seniorentanzen, Wandergruppen oder Nachbarschaftsnetzwerken.

Abb. 1: Ablauf einer „Social Prescription“ (modifiziert nach Haas S et al.: Factsheet Social Prescribing; Gesundheit Österreich GmbH 2019)

Mindestanforderungen an die Primärversorger

Die konkreten Kriterien bzw. Mindestanforderungen für die Etablierung von Social Prescribing in weiteren Primärversorgungseinheiten sind laut Mag. Dr. Daniela Rojatz, Projektleiterin bei der Gesundheit Österreich GmbH, noch in Erarbeitung (s. Interview). Als Voraussetzung für die reibungslose Umsetzung und Weiterführung gelten die folgenden zentralen Elemente:

  • die Sensibilisierung des Primärversorgungsteams für gesundheitsrelevante, nichtmedizinische Bedürfnisse

  • eine Person, die die Link-Working- (=Vermittlungs-)Funktion wahrnehmen kann

  • Netzwerkmanagement: Kenntnis regionaler Angebote und Kontaktpflege mit diesen

  • Qualitätssicherung: Dokumentation, Superversion für Fachkraft mit Link-Working-Funktion

Wer profitiert von Social Prescribing?

Die Erfahrungen zeigen, dass spezifische Zielgruppen besonders davon profitieren, wie beispielsweise:

  • ältere Menschen, insbesondere solche, die wenig soziale Kontakte haben

  • chronisch sowie psychisch kranke Menschen, insbesondere solche, bei denen sich die Erkrankung auf verschiedenste Lebensbereiche (Arbeit, soziales Netzwerk etc.) auswirkt

  • sozial benachteiligte Menschen (z.B. armutsbetroffen, geringes Bildungsniveau, prekäre Beschäftigung), die erfahrungsgemäß oft erschwerten Zugang zu vielen Angeboten haben

  • Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz oder geringen Grundkompetenzen, die sich nur schwer alleine im Angebotsspektrum zurechtfinden

Mehrere Studien untersuchten und bestätigten eindeutig die Wirksamkeit von Social Prescribing.1–3 Festgestellt wurden dabei unter anderem ein deutlich verbessertes allgemeines Wohlbefinden und optimistischere Zukunftsgedanken, eine verbesserte psychische Gesundheit, deutliche Verbesserungen in Hinblick auf das soziale Netzwerk und auch das Gefühl der sozialen Verbundenheit bei den Patienten. Der Nutzen von Social Prescribing überträgt sich nicht zuletzt auch auf die Primärversorger: Sie erleben es als entlastend und bereichernd, dass sich ein Teammitglied der nichtmedizinischen, aber gesundheitsrelevanten Bedürfnisse ihrer Patienten annimmt.

Bericht:
Mag. Andrea Fallent

Literatur:

1 Bertotti M et al.: A realist evaluation of social prescribing: an exploration into the context and mechanisms underpinning a pathway linking primary care with the voluntary sector. Primary Health Care Research & Development 2018; 19(3): 232-45

2 Woodall J et al.: Understanding the effectiveness and mechanisms of a social prescribing service: a mixed method analysis. BMC Health Services Research 2018; 18(1): 604

3 Rojatz D et al.: Krankheitsprävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitskompetenz in der Primärversorgungseinheit. Info-Mappe 2021;
https://oepgk.at/pve-info-mappe-2021 /; zuletzt aufgerufen am 8. 6. 2022




Das Experten-Interview

5 Fragen an:


Mag. Dr. Daniela Rojatz
Projektleiterin Social Prescribing Kompetenzzentrum Gesundheitsförderung und Gesundheitssystem, Gesundheit Österreich GmbH
E-Mail: daniela.rojatz@goeg.at
Web: www.goeg.at


Wie sieht Ihr Resümee nach den ersten Erfahrungen mit Social Prescribing im Vorjahr in Österreich aus?

D. Rojatz: In der Primärversorgung ist das Interesse an Social Prescribing groß. Es wurden mehr Förderanträge gestellt, als gefördert werden konnten. 9 Einrichtungen der Primärversorgung – konkret Primärversorgungseinheiten, Gruppenpraxen, Einrichtungen für nicht versicherte Personen in vier Bundesländern – wurde eine Förderung zuteil. Damit konnten die genannten Einrichtungen erste Schritte zum Aus- und Aufbau von Social Prescribing setzen. Die notwendige Vermittlungsfunktion dafür wurde in den Einrichtungen von unterschiedlichen Berufsgruppen übernommen, zum Beispiel von Sozialarbeiter*innen, Diätolog*innen, Ergotherapeut*innen – oder auch einem Link-Working-Team. Durch die Prozessbegleitung der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) und regelmäßige Vernetzungstreffen der Projektbeteiligten konnte eine „Community of Practice Social Prescribing“ etabliert werden.

Wie ist das Feedback der beteiligten Ärzte?

D. Rojatz: Die Resonanz ist durchwegs positiv. Die beteiligten Ärzte freuen sich über die Entlastung. Verdeutlicht wird dies unter anderem durch ein Zitat einer Ärztin: „Ich bin so glücklich, ich muss nicht mehr das Gefühl haben, dass ich die Leute wegschicken muss, ohne sie umfassend behandelt zu haben.“

Werden noch weitere geförderte Projekte folgen?D. Rojatz:Die Umsetzung des Follow-up-Calls Social Prescribing startete am 1. Juni. Er ermöglicht den Umsetzer*innen aus den Pilotprojekten 2021 die Weiterführung und Weiterentwicklung von Social Prescribing. Ein weiterer Fördercall zum Aufbau von Social Prescribing in der Primär- und pädiatrischen Versorgung ist in Vorbereitung.

An wen können sich Ärzte wenden, die sich für Social Prescribing interessieren?

D. Rojatz: Interessierte Ärztinnen und Ärzte finden auf der GÖG-Website www.goeg.at/socialprescribing die verfügbaren Informationen und Unterstützungstools wie eine Checkliste, das Handbuch sowie ein Erklärvideo aus dem Projekt. Darüber hinaus steht das Social-Prescribing-Team der GÖG nach Möglichkeit der Ressourcen gern bei Fragen zur Verfügung.

Welche Vorteile sollte Social Prescribing langfristig gesehen in der Primärversorgung bringen?

D. Rojatz: Social Prescribing ist ein wichtiger Baustein einer an Gesundheit bzw. Gesundheitsförderung orientierten Primärversorgung. Es trägt zu gesundheitlicher Chancengerechtigkeit, Gesundheitskompetenz und sozialer Teilhabe bei. Studien belegen ein gestiegenes Wohlbefinden und verbesserte Gesundheit bei Patient*innen. Gesundheitseinrichtungen bzw. die Fachkräfte in der Gesundheitseinrichtung werden durch die Möglichkeit, gesundheitsrelevante, nicht medizinische Bedürfnisse zu adressieren, und durch reduzierte Krankenhausaufenthalte entlastet. Gemeinschaft und Gesellschaft profitieren von Social Prescribing durch die Stärkung von Gemeinschaftsaktivitäten und die Förderung von sozialem Zusammenhalt.

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