
Diagnose und Therapie von Ohrgeräuschen
Der Tinnituspatient in der Hausarztpraxis
Hohe Pfeif- und Piepstöne sind am häufigsten, auch Maschinengeräusche, Brummen und Sausen sowie pulssynchrone, pochende Geräusche, die dem Herzschlag entsprechen, kommen vor: Während Ludwig van Beethoven einst noch daran verzweifelte, ist Tinnitus heute kein Schicksal mehr, mit dem Betroffene leben müssen, wie HNO-Facharzt Dr. Johannes Schobel, St. Pölten, im Rahmen seines Vortrags für ALLGEMEINE+ TV ausführte.
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"Der neidische Dämon hat meiner Gesundheit einen schlimmen Streich gespielt, nämlich mein Gehör ist seit drei Jahren immer schwächer geworden (Schwerhörigkeit) … nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort (Tinnitus) … Ich bringe mein Leben elend zu. Die hohen Töne von Instrumenten und Singstimmen höre ich nicht (Hochtonverlust), wenn ich etwas weit weg bin, auch die Bläser im Orchester nicht. Manchmal auch hör ich den Redner, der leise spricht, wohl, aber die Worte nicht (Sprachverständlichkeitsverlust), und doch, sobald jemand schreit, ist es mir unausstehlich (Hyperakusis)."
Ludwig van Beethoven (1770–1827)
Rund 30 bis 45% der Erwachsenen hatten schon einmal einen Tinnitus, 10% einen länger andauernden. Bei rund 1% der Bevölkerung entwickelt er sich zu einem ausgeprägten Problem, erklärte Dr. Johannes Schobel, HNO-Facharzt und Leiter des Zentrums für Tinnitus und Hyperakusis in St. Pölten, bei seinem Onlinevortrag. Tinnitus ist also ein Symptom (und bei entsprechendem Leidensdruck eine Erkrankung), das vor allem in akuter Ausprägung relativ häufig in der Allgemeinpraxis vorkommt und auch dort in den meisten Fällen ersttherapiert werden kann. Als therapeutischeKrux kann sich der chronische Tinnitus entpuppen. Welche Herausforderungen sich in diesen Fällen ergeben können und welche Behandlungsmöglichkeiten dem Allgemeinmediziner als auch dem Facharzt zur Verfügung stehen, führte Schobel im Detail aus.
Tinnitus: ein herausforderndes Phänomen
Ein Ohrgeräusch kann plötzlich auftreten oder schon länger in einem erträglichen Ausmaß bestehen und dann plötzlich exazerbieren. Das Ausmaß des Leidensdrucks ist unabhängig von Lautstärke und Art des Ohrgeräusches: Werden die störenden Geräusche mit einem Vergleichston im Audiometer verglichen, kommt man sehr häufig auf einen Wert von 5 bis 10 Dezibel unter der Hörschwelle, was dem Auftreffen von Laubblättern auf dem Boden entspricht. Dennoch kann der Tinnitus eine große Penetranz aufweisen und auch bei hoher Umgebungslautstärke wahrnehmbar bleiben, so Schobel: „Das Geräusch ist kein physikalischer Ton im eigentlichen Sinn, sondern ein gespeicherter Gedächtnisinhalt des Gehirns. Bei Leidensdruck ist das limbische System besonders aktiv und agiert autonom.“
Die vorrangige Aufgabe des Arztes ist es, den Betroffenen zu beruhigen, ihm alle für ihn relevanten Informationen zur Verfügung zu stellen und in jedem Fall Empathie zu zeigen, so Schobel. Zur Erfassung des Leidensdruckes seiner Patienten verwendet der Facharzt eine 10-Punkte-Skala (Tab. 1). Ab 7 Punkten besteht zumeist auch eine Hyperakusis, die gesteigerte Lärm- und Geräuschempfindlichkeit.
Völlige Reizabschottung ist übrigens ein unphysiologischer Zustand, wie Schobel erläuterte: „Schon 1953 zeigten Heller und Bergmann in einem Experiment, dass auch gesunde Testpersonen in einem völlig schalltoten Raum in kurzer Zeit ein Ohrgeräusch entwickeln.“ Die Erkenntnis der beiden Forscher: Jeder Mensch hat einen Grundtinnitus, der einen Geräuschpegel von 30 bis 40 Dezibel benötigt, um ihn in Schach zu halten.
Nebenbei bemerkt existieren auch „objektive“, nach außen dringende Ohrgeräusche, die der Betroffene selbst nicht wahrnimmt, die aber für andere Menschen zu hören sind. „Sie sind ein Beweis dafür, dass in erster Linie unser Gehirn darüber entscheidet, was wir wahrnehmen und was nicht“, so Schobel.
Körperliche Ursachen: von Altersschwerhörigkeit bis ZNS-Erkrankungen
Relativ umfangreich kann die Ursachenforschung bei Hörgeräuschen ausfallen, da zahlreiche Erkrankungen und auch Medikamente wie Aspirin, Diuretika, Piracetam oder Chinin als Auslöser eines Tinnitus infrage kommen (Tab. 2). Zu den häufigsten Tinnitusursachen zählen organisch gesehen – jede auch noch so geringe – Innenohrläsion und in nicht organischer Hinsicht Stress und Überlastungssyndrome wie Burnout.
Hörsturz
Eine der häufigeren möglichen Ursachen für einen Tinnitus ist ein Hörsturz, der im Idealfall – auch ohne gesicherte Diagnose durch einen Hörtest – binnen 24 bis 48 Stunden behandelt werden sollte. Können nach otoskopischer Untersuchung leicht nachweisbare andere Ursachen wie ein Cerumenpropf oder ein Mittelohrerguss ausgeschlossen werden, kann mit einer Cortisontherapie begonnen werden, wenn keine Kontraindikationen dafür bestehen bzw. ein Facharztbesuch am selben Tag nicht mehr möglich ist. Schobel: „Sie als Hausärzte habe den Vorteil, dass Sie ihre Patienten kennen und wissen, ob die Cortisongabe möglich ist.“
Ist ein pulsierendes Ohrgeräusch pulssynchron, können Gefäßveränderungen, z.B. der großen Kopfschlagader, ursächlich sein. Klarheit bringt eine Auskultation der Karotiden sowie des Bereiches des Gehörgangs und dahinter, wie Schobel erläuterte: „In dieser Region können zum Beispiel AV-Shunts vorkommen, die mittels Angiografie abgeklärt werden.“
Zu den eher seltenen Ursachen des Tinnitus zählen neurologische Erkrankungen wie Encephalomyelitis disseminata (MS) oder Morbus Parkinson. Auch funktionelle Störungen der Halswirbelsäule können durchaus relevant sein. „Für sich alleine nicht unbedingt, aber sie stellen definitiv einen modulierenden Faktor mit großem Einfluss dar“, so Schobel. Ebenso kann eine craniomandibuläre Dysfunktion hinter einem Tinnitus stecken, die bei Verdacht von einem Spezialisten abgeklärt werden sollte. Bei jedem einseitigen Tinnitus muss ein Akustikus-Neurinom ausgeschlossen werden. Weitere mögliche Ursachen sind in Tabelle 2 angeführt.
Überlastungssyndrome und Stress
Nicht zuletzt stellen psychische Belastungen einen Trigger für Ohrgeräusche dar, wie Schobel betonte: „Stress macht unsere Filter im Gehirn durchlässiger für Tinnitus. Alles auf dem Weg zum Burnout bzw. Burnout selbst ist daher eine häufige Ursache.“ Dazu zählen auch Probleme auf privater Ebene wie Verlust des Partners, die im Rahmen der Anamnese erfragt werden können und einen wichtigen Anhaltspunkt liefern.
Therapieoptionen
Akuter Tinnitus
Jahrzehntelang wurden in der Akutbehandlung Infusionen, durchblutungsfördernde Präparate bzw. Medikamente verabreicht, welche die Sinneszellen und die Erregungsübertragung im Innenohr direkt beeinflussen sollten, wie Flunarizin und Betahistindihydrochlorid. Ersteres ist indiziert bei Clusterkopfschmerzen, Letzteres bei Morbus Menière. „Das alles wirkt nicht bei akutem Tinnitus. Es gibt bis heute keine Substanz, von der man im Tierexperiment nachweisen könnte, dass sich an der Durchblutung durch die Arteria labyrinthi, die für die Blutversorgung des Innenohrs zuständig ist, irgendetwas ändert“, so Schobel. „Die einzige Therapieoption mit gesicherter Wirksamkeit ist Cortison hochdosiert, so rasch wie möglich – binnen 24 bis 48 Stunden.“ Die Therapieempfehlung des Experten bei akutem Tinnitus bzw. Hörsturz: 80 mg Methylprednisolon am 1. und 2. Tag, 40 mg am 3. und 4. Tag, dann 2 Tage je 20 mg und 10 mg, und dann weiter in diesem Schema mit einer Dosierung von 8 mg, 4 mg, 2 mg und 1 mg, dazu Protonenpumpen-Hemmer.
Die hyperbare Sauerstofftherapie kann effektiv sein, wenn sie innerhalb von 24 bis 48 Stunden eingesetzt wird: „Zu mir kommen allerdings vorwiegend Patienten, die erfolglose Therapieversuche hinter sich haben, daher kann ich die Erfolgsquote nicht beurteilen.“
Subakuter Tinnitus
Ist das therapeutische Pulver Cortison einmal verschossen und die Erkrankung im subakuten Stadium, ist es wichtig, den Patienten mit möglichen weiteren, konstruktiven Maßnahmen zur Selbsthilfe zu versorgen, betonte Schobel: „Das betrifft vorwiegend Fachärzte, aber auch Allgemeinmediziner sehen sich regelmäßig in dieser Position, diesen Patienten Mut zu machen.“ Ein wichtiger Hinweis ist, dass Betroffene absolute Stille meiden sollten. Als Geräuschkulisse zum Einschlafen eignet sich zum Beispiel entspannende Hintergrundmusik bzw. kann man als Ablenkungsstrategie spezielle Apps (z.B. „ReSound Tinnitus Relief™“) mit Naturgeräuschen wie Feuer, Regen, Meeresrauschen o.Ä. nützen. Als Entspannungstechniken bieten sich z.B. die progressive Muskelentspannung nach Jacobson und autogenes Training an.
Chronischer Tinnitus
Nach zwei, drei Monaten ohne Verbesserung ist der Tinnitus zum chronischen Problem geworden. „Der chronische Tinnitus ist wie der Phantomschmerz ein Phänomen des Gehirns und nicht des Innenohrs, das mit Medikamenten nicht behandelbar ist“, unterstrich Schobel. „Chronischer Tinnitus kann nur durch Retraining, also einen Umlernprozess, wieder gebessert werden.“ Der Funktionszustand des Gehirns, in diesem Fall die krankhafte Synchronisation von Nervenzellen im Hörzentrum im Sinne eines „neuronalen Feuerwerks“, kann sogar mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie sichtbar gemacht werden.
Beim chronischen Tinnitus gilt die kognitive Verhaltenstherapie als wirksamste, aber auch aufwendige Therapieoption, wobei spezialisierte Therapeuten auch mit Biofeedback respektive Neurofeedback arbeiten und damit gute Resultate erzielen.
Morbus Menière
Bei Morbus Menière mit der Kombination aus massivem Ohrgeräusch, Tieftonschwerhörigkeit und Tinnitus ist die Therapie mit Betahistindihydrochlorid legitim, obwohl die Substanz eine Zeitlang als Placebo verschrien war.
Schwerhörigkeit
Die absolut häufigste Tinnitusursache, die häufig zu wenig Beachtung findet, ist die Altersschwerhörigkeit. Ab einer Schwerhörigkeit von 30 dB in einer wichtigen Sprachfrequenz, zwischen 125 Hertz und 6 Kilohertz, beidseits bzw. einseitig in zwei Frequenzen, bestünde bereits eine Indikation für ein Hörgerät, „auch wenn das kaum jemand macht“, so Schobel. „Aber genau bei diesen Patienten könnte man das Ohrgeräusch mittels Hörgerät meist sehr leicht ausknipsen.“
Cochleaimplantat
Das Setzen eines Cochleaimplantats kann bei Tinnitus in Kombination mit hochgradigem Hörverlust sinnvoll sein, erklärte Schobel: „Auch in solchen Fällen, in denen dadurch kein Sprachverstehen ermöglicht wird. Aber die Patienten erhalten akustische Eindrücke von außen und können so davon durchaus profitieren.“ In diesem Zusammenhang klärte der Experte darüber auf, dass auch taube Menschen mit ausgereifter Hörbahn einen Tinnitus bekommen können, nachdem sie ein Cochleaimplantat erhalten haben, taub geborene Menschen ohne Cochleaimplantat hingegen nicht.
Leitlinie und Komorbiditäten
Auf die aktuelle S3-Leitline „Chronischer Tinnitus“1 ging Schobel kurz ein: In dieser wird Tinnitus in einem Informationskasten als „Symptom des auditorischen Systems (…)“ bezeichnet. „Ich bin mit dieser Formulierung nicht glücklich“, so Schobel. „Solange jemand darunter nicht leidet, bin ich mit der Bezeichnung Symptom einverstanden. Aber wenn der Patient nicht mehr schlafen kann und im Extremfall berufsunfähig wird, ist ein hoher Krankheitswert gegeben, der auch gewürdigt werden sollte.“
In der Leitlinie wird auch auf mögliche psychiatrische Begleiterkrankungen hingewiesen, die einem Tinnitus vorausgehen bzw. gleichzeitig mit ihm auftreten können oder durch ihn hervorgerufen werden. „Hätte ich nicht die Erfahrung von Tausenden Tinnituspatienten könnte ich als unbedarfter Leser spätestens bei den psychiatrischen Komorbiditäten den Eindruck gewinnen, dass gut die Hälfte der Tinnituspatienten ein Fall für den Psychiater wäre“, resümierte der Experte. „Aber das sind sie definitiv nicht.“
Gut ein Fünftel bis ein Drittel von Schobels Patienten profitieren jedoch sehr wohl von psychologischer bzw. psychotherapeutischer Intervention. Allerdings ist das Angebot an auf Tinnitus spezialisierten Therapeuten laut Schobel in Österreich beschränkt bzw. fehlen konkrete Informationen der Fachgesellschaften dazu.
Zusammenfassung der Therapiemöglichkeiten
Abschließend präsentierte Schobel eine Übersicht jener Therapiekonzepte bei chronischem Tinnitus (Tab. 3), die im Tinnituszentrum St. Pölten zum Einsatz kommen bzw. empfohlen werden. Vorliegende Grunderkrankungen wie hoher Blutdruck müssen ausgeschlossen bzw. therapiert werden. Weiters ist es notwendig, dem Patienten im Sinne des „Counselings“ ein vernünftiges Krankheitsmodell mit den wichtigsten Informationen der Ursachen zu vermitteln, um ihn zu beruhigen und Ängste abzubauen (Tab. 4). Wichtig ist die Aufklärung über Therapieoptionen bzw. über erwähnte Selbsthilfemöglichkeiten (Geräuschkulisse bzw. mentale Entspannungsmethoden wie autogenes Training oder progressive Muskelentspannung). Dazu ein Zusatztipp des Vortragenden: Es sind auch Stirnbänder mit eingebauten Bluetooth-Lautsprechern erhältlich, die dafür sorgen, dass die Umgebung von der Geräuschkulisse nicht behelligt wird. Moderne Hörgeräte sind in der Therapie des chronischen Tinnitus Standard und in der Hand des Teams HNO-Arzt /Hörgeräte-Akustiker oft der entscheidende Schlüssel zum Erfolg, so Schobel: „Denn 90% aller Tinnituspatienten haben eine Hörminderung, derer sie sich zwar nicht bewusst sind, die aber den Tinnitus entscheidend mitverursacht und derenAusgleich mit einem modernen Hörgerät ein unverzichtbarer Teil jeder Tinnitustherapie ist. Dies ist in der Zwischenzeit von den Leitlinien auch anerkannt.“Ist es nicht möglich, mit der akustischen Verstärkung alleine den Tinnitus in den Hintergrund zu drängen, kommt zusätzlich der Noiser zum Einsatz, der im Gerät schon integriert ist und ein angenehmes breitbandiges „Kontrastgeräusch“ zum Tinnitus, ein sogenanntes weißes Rauschen, abgibt. Mit dieser Kombination aus Hörgerät und Rauschgenerator können mit Expertenhilfe auch schwere, dekompensierte Tinnituspatientenwieder in den kompensierten Bereich von bis zu 3 Punkten auf der 10-Punkte-Skala gelangen.
Kognitive Verhaltenstherapie
Die kognitive Verhaltenstherapie ist die nach den Leitlinien bestbewertete Therapie bei chronischem Tinnitus. Die kognitive Therapie stellt die aktive Gestaltung des Wahrnehmungsprozesses in den Vordergrund, weil in letzter Instanz nicht die objektive Realität, sondern die subjektive Sicht des Betrachters über das Verhalten entscheidet. So lernen Tinnitusbetroffene, dass sie auch mit Tinnitus ein gutes Leben führen können und es selbst in der Hand haben, wie gut es ihnen mit dem Ohrgeräusch geht.
Auf www.allgemeineplus.at/veranstaltungen finden Sie alle Informationen zu vergangenen und kommenden Veranstaltungen. In der Unterrubrik „Rückblick“ können Sie zudem viele Vorträge als On-demand-Videos nachsehen und sich so fortbilden.
Bericht:
Mag. Andrea Fallent
Quelle:
„Der Tinnituspatient in der Hausarztpraxis“, Vortrag von Dr. Johannes Schobel, St. Pölten, im Rahmen von ALLGEMEINE+ TV am 7. 3. 2023
Literatur:
Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V.: S3-Leitlinie Chronischer Tinnitus. https://register.awmf.org/assets/guidelines/017-064l_S3_Chronischer_Tinnitus_2021-09_1.pdf ; zuletzt aufgerufen am 20. 4. 2023