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Forscherin mit Herz und Weitblick

„Meine Vision ist es, die Zukunft ein bisschen besser zu machen“

Allgemeinmedizin ist das medizinische Schlüsselfach im Primärversorgungssektor. Unter idealen Rahmenbedingungen können dort bis zu 70–80% aller Beratungs- und Behandlungsanlässe abschließend geklärt werden. Eine Vorreiterin für bessere Rahmenbedingungen ist Univ.-Prof. Dr. Kathryn Hoffmann, MPH, die mit 1. Februar 2023 die Professur für Primary Care Medicine sowie die Leitung der Abteilung für Primary Care Medicine am Zentrum für Public Health an der Medzinischen Universität Wien übernommen hat. Sie gilt als eine führende Wissenschaftlerin für Versorgungsforschung im Primärversorgungssektor in Österreich. Im Interview mit ALLGEMEINE+spricht Hoffmann über Fakten, Forschung und Visionen in diesem Bereich: „Ich hoffe, dass unsere Forschungsergebnisse ein Motor dafür sind, die Versorgungssituation im österreichischen Primärversorgungssektor auf eine höhere Stufe zu bringen, von der Patient*innen und Hausärzte und Hausärztinnen profitieren.“

Frau Prof. Hoffmann, wie sind Sie zur Medizin gekommen und dann konkret zur Allgemeinmedizin?

K. Hoffmann: Ich habe mich bereits in der Schule sehr für die naturwissenschaftlichen Fächer wie Biologie, Physik und Chemie interessiert. Und nachdem meine besten Freundinnen sich nach dem Gymnasium für das Medizinstudium in Graz entschieden hatten, habe ich auch diesen Weg gewählt. Die Medizin hat mich von Tag 1 an sehr fasziniert. Beim Studium selbst haben mich dann zwei Fächer besonders interessiert, zum einen die Sozialmedizin und zum anderen die Kardiologie. Ende der 1990er-Jahre, Anfang 2000, gab es im Pflichtcurriculum ja noch so gut wie gar nichts zur Allgemeinmedizin. Nach dem Studium wollte ich mich dann der Kardiologie zuwenden und habe mich als Study Nurse bei Studien engagiert. Aufgrund der langen Wartezeiten auf den Turnusplatz hatte ich das Glück, eine Lehrpraxisstelle bei einem Landarzt in Tobelbad zu bekommen. Dort habe ich neun Monate lang zum ersten Mal Allgemeinmedizin erlebt. Diese Arbeit hat mich so begeistert: dass man Menschen mit ihrem Umfeld betrachtet – so ganz anders als im Krankenhaus – und mit einer viel größeren Verbindlichkeit der Versorgung, weil man die Patient*innen ja auch immer wieder sieht.

Hatten Sie zu dieser Zeit schon einen speziellen Fokus, was Sie mit Ihrer medizinischen Ausbildung erreichen möchten?

K. Hoffmann: Ich habe damals gesehen, dass man durch Engagement in Gesundheitsförderung und Prävention sehr viel zur Gesundheit der Menschen beitragen könnte. Das war durch mein Interesse an Sozialmedizin schon damals ein besonderer Fokus. Konkret, den Menschen die Möglichkeit, das Wissen, die Information und die Struktur zu geben, dass sie sich gesund erhalten können bzw. auch vor Krankheitsrisiken schützen können.

Nach der Lehrpraxis folgte mein Krankenhausturnus und dann wäre ich beinahe wieder in der Kardiologie gelandet. Ich habe dann aber parallel zum Turnus eine Public-Health-Ausbildung begonnen, weil mir dieser Aspekt im Krankenhaus so gefehlt hat. Nach dem Turnus und dem Abschluss der Ausbildung war ich dann bis 2010 im Rahmen der Tabakpräventionsstrategie Steiermark für die Tabakentwöhnungsprogramme verantwortlich. Anschließend habe ich mich für eine wissenschaftliche Stelle in der Abteilung für Allgemeinmedizin im Zentrum für Public Health an der MedUni Wien beworben, die perfekt zu meinem Profil gepasst hat. Zwei Tage nach dem Vorstellungsgespräch hatte ich die Stelle. Seitdem bin ich begeisterte Wissenschaftlerin.

Ich habe mich dann innerhalb von sechs Jahren habilitiert, habe in dieser Zeit zahlreiche EU-Projekte geleitet und viel publiziert. 2020 habe ich mit Unterstützung von Frau Prof. Rieder die Unit Versorgungsforschung und Telemedizin in der Primärversorgung gegründet, und seit 1. Februar 2023 bin ich Professorin für Primary Care Medicine und habe die Leitung der Abteilung für Primary Care Medicine am Zentrum für Public Health der MedUni Wien übernommen.

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<< „Die Menschen, die in der Primärversorgung arbeiten, machen einen extrem guten Job – bis zur Selbstaufopferung.“>>
Univ.-Prof. Dr. Kathryn Hoffmann, MPH
Herzliche Gratulation zur Professur! Sind Sie mittlerweile auch wieder praktisch tätig?

K. Hoffmann: Ab 2020 hatte ich wieder den Wunsch, als Ärztin zu arbeiten und war in einem Primärversorgungszentrum als Vertretungsärztin tätig. Ich wollte die Situation in der Praxis sehen, mit der ich mich all die Jahre davor wissenschaftlich beschäftigt hatte, um einen 360-Grad-Blick zu bekommen. Mein Fokus liegt neben der Versorgungsforschung auf postinfektiösen Erkrankungen und Antibiotikaresistenzen.Mit der Pandemie hat er sich dann auf Covid-19 und vor allem auf das Post-Covid-Syndrom ausgedehnt – mit den vielen Herausforderungen der Diagnostik und der Komplexität der Erkrankung. Das passt wiederum sehr gut zu meiner lösungsorientierten Persönlichkeit. Meine Vision ist es, die Zukunft für diese Patient*innen und auch insgesamt ein bisschen besser zu machen.

Dadurch beschäftige ich mich auch sehr mit Zukunftstrends. Daher liegt ein weiterer Schwerpunkt meiner Forschung auf der telemedizinischen Betreuung, im Speziellen auf Videokonsultationen, die leider in Österreich noch in den Babyschuhen stecken. Diese beiden Themengebiete kann man auch sehr gut verknüpfen, weil es Post-Covid-Patient*innen gibt, die es gar nicht mehr schaffen, eine Ordination aufzusuchen und daher aufsuchende Betreuung und Telemonitoring in Anspruch nehmen müssten, um eine gute Therapie zu erhalten.Leider sind diese Strukturen aber noch unzureichend vorhanden.

Seit einem Jahr betreue ich auch selbst Menschen mit Post-Covid-Syndrom in Kooperation mit der Österreichischen Gesundheitskasse. Das sind große Lernerlebnisse, die ich von der Praxis in die Forschung einbringen kann und umgekehrt. Durch meine wissenschaftliche Laufbahn bin ich auch in unterschiedlichen Gremien und kann dort vieles aus dieser praktischen Erfahrung einbringen.

Ihre Tätigkeiten gehen augenscheinlich über einen ein Full-time-Job hinaus. Bleibt da überhaupt noch Zeit für Privates und Hobbys?

K. Hoffmann: Das ist eine Frage, die ich mir wieder und wieder bewusst stellen muss. Da mich meine Arbeit begeistert, neige ich dazu, sehr viel Zeit und Energie in meine Arbeit zu investieren. Ich versuche darauf zu achten, dass auch noch Platz für mein Privatleben und meine Hobbys bleibt, die mir sehr wichtig sind und viel Spaß machen – wie zum Beispiel das Sportklettern. Ich reise auch sehr gern und habe es dadurch auch immer sehr genossen, durch die internationalen Meetings im Rahmen meiner EU-Projekte europäische und internationale Städte und Länder kennenzulernen. Jedes halbe Jahr setze ich mich bewusst hin und richte meinen Fokus auf wichtige Aspekte wie Erholung und Ausgleich mit meiner Familie, damit das nicht zu kurz kommt.

Was raten Sie Ihren Allgemeinmedizin-Kolleg*innen, um mit der hohen Belastung des Berufes gut umgehen zu können?

K. Hoffmann: Ich schreibe gerade in einer Publikation darüber, wie es den Allgemeinmedizinern in der ersten Zeit der Pandemie 2020/21 gegangen ist und was sie trotz des hohen Stresses resilient gemacht und bei guter mentaler Gesundheit gehalten hat. Teilweise haben sie ja sogar in der Garage ordiniert oder Zelte aufgestellt, um Infektpatient*innen behandeln zu können. Entscheidende Faktoren für die Resilienz waren Freizeit und Sport als auch die Familie und der kollegiale Austausch.

Kollegialer Austausch ist mir persönlich auch sehr wichtig, aber nicht nur innerhalb der Medizingilde. Das lebe ich auch innerhalb meiner Abteilung. In meinem Team gibt zwei Ärztinnen, eine Philologin, eine Medizinanthropologin und einen Experten für Business Administration, die neue Blickwinkel in Bezug auf Gesundheitsförderung und Prävention und auch zu den wichtigen betriebswirtschaftlichen Aspekten in den Primärversorgungszentren einbringen. Zum Beispiel, wie sich die verschiedenen Organisationsformen wie OG und GmbH in der Praxis bewähren.

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01 Dieses Foto entstammt dem Kick-off-Meeting des EU-Afrika-Projektes zum Thema Human Resources for Primary Health Care in Africa (HURAPRIM) in Kapstadt. Zu sehen sind die Projektkoordinator*innen aus den unterschiedlichen afrikanischen (Südafrika, Mali, Botswana, Sudan, Uganda) und europäischen Ländern (Belgien, UK und Österreich)

Was kann die Primärversorgung in Österreich leisten? Wo orten Sie Aufholbedarf bzw. Verbesserungsmöglichkeiten?

K. Hoffmann: Die Menschen, die in der Primärversorgung arbeiten, machen einen extrem guten Job – bis zur Selbstaufopferung. Das Problem sind also weniger die Menschen als die Strukturen, in denen sie arbeiten müssen und die einer bestmöglichen Versorgung entgegenstehen.

Ein Beispiel ist das Finanzierungssystem in Österreich, das auf Frequenz der Patient*innen ausgelegt ist. Ordinationen im öffentlichen System sind aber Unternehmen, die Miete und Gehälter zahlen und sich nach wirtschaftlichen Vorgaben richten müssen. Und das wiederum spiegelt sich natürlich in der Versorgung wider.

Generell nimmt die Anzahl der Mehrfacherkrankungen und auch der komplexen Erkrankungen zu – nicht nur durch die Pandemie, sondern grundsätzlich durch die Demografie. Eine gute Behandlung braucht Zeit, Befunde müssen gelesen werden, Diagnostik und Behandlung abgewogen werden, auch, um unnötige Schritte zu vermeiden. Der Finanzierungsmechanismus, der jetzt vorliegt, passt zu diesen Anforderungen einfach nicht mehr. Zudem finden es junge Absolvent*innen nicht sehr attraktiv, in einer Ordination zu arbeiten, in der 50 bis 100 Patient*innen pro Tag oder mehr Schlange stehen. Die sind aufgrund des Versorgungsauftrags auch zu behandeln. Das ist gleichzeitig stressig und unbefriedigend. Dadurch entwickelt sich ein Teufelskreis, in dem immer weniger Hausärzte und -ärztinnen im öffentlichen System übrigbleiben. Für eine Lösung dieses Dilemmas bräuchte es wirklich gute, komplett neue Honorarkataloge oder gänzlich andere Finanzierungsformen. Dazu müsste man ganz neu denken und nicht nur an Minirädchen drehen.

Gibt es europäische Länder, die in diesem Zusammenhang mit gutem Beispiel vorangehen?

K. Hoffmann: Dazu könnte zum Beispiel man nach Belgien schauen, da wird das „needs-based capitation system“ angewandt. Es gibt nicht Schwarz und Weiß, sondern unterschiedliche Möglichkeiten, die auch sehr gut auf Österreich adaptierbar wären. Aber die Finanzierung ist natürlich nur ein Teilaspekt.

Es wird vielerorts von einem eklatanten Ärztemangel geredet. Kritiker des derzeitigen Systems meinen allerdings, dass es in Österreich keinen Ärztemangel im eigentlichen Sinn gibt, sondern primär ein Verteilungsproblem. Wie sehen Sie das?
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02 Univ.-Prof. Dr. Kathryn Hoffmann bei den Aufnahmen eines Podcasts des Austrian Health Forum zum Thema „Ungenützte Chancen im Kampf gegen Corona“

K. Hoffmann: Österreich hat eine der höchsten Medizin-Absolvent*innendichte in Europa. Das Problem liegt in der Tat in der Verteilung zwischen den Fächern. Und es gibt auch ein Verteilungsproblem innerhalb der Fächer zwischen dem öffentlichen und dem privaten System. Im privaten System hat man etwas mehr Freiheiten, auch bezüglich der Honorierung und der Einteilung der Zeit, die man mit Patient*innen hat. Das ist meiner Meinung nach einer der Hauptgründe, wieso immer mehr Ärzte und Ärztinnen nach ihrer Fachausbildung in den privaten Sektor gehen. Ein anderer Faktor ist die mangelnde Entwicklung in vielen ländlichen Gebieten in Hinblick auf Umweltschutz, öffentliche Verkehrsanbindung und Kinderbetreuung. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie kann ein Ort attraktiv für einen Gesundheitsberuf werden?

Sie haben als eines Ihrer Schwerpunktthemen die Nutzung von Videokonsultationen in der Primärversorgung erwähnt. Wann ist die Telemedizin sinnvoll und wie kann sie funktionieren?

K. Hoffmann: Videokonsultationen in den Arbeitsalltag zu implementieren wäre grundsätzlich eine große Chance, vor allem für leicht oder chronisch Kranke, die in einer Ordination immer einem gewissen Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Voraussetzungen dafür sind genügend Zeit, eine gute Organisation und ein funktionierendes System. Bis Patient*innen mit der Videokonsultation warm werden, braucht es zumindest am Anfang mehr Zeit. Sie müssen aktiver mitarbeiten, das Blutdruckmessgerät oder das Pulsoxymeter bereit haben, damit sie online den Blutdruck bzw. die Sauerstoffsättigung messen können. Eine Videokonsultation geht nicht nebenbei und nach einem anstrengenden Tag mit vielen Patient*innen, sonst ist das Burnout vorprogrammiert. Während der Pandemie konnte ein Konsultationshonorar für Videokonsultationen zwar verrechnet werden, aber es war das gleiche wie bei einer Face-to-Face-Konsultation. Daher war die Telemedizin gerade zu dieser Zeit auch nicht sehr attraktiv. Einige Hausärzt*innen haben es probiert, viele sind aber tatsächlich schnell aufgrund des zeitlichen Aufwands wieder auf ein Telefonat umgestiegen. Die Rate derjenigen, die es gemacht haben, war aber nie höher als im einstelligen Prozentbereich.

In Österreich wird zwar sehr viel von Digitalisierung in der medizinischen Betreuung gesprochen, aber dabei viel den Ärzt*innen überlassen, ohne ihnen Unterstützung zukommen zu lassen. In anderen Ländern gibt es Digitalisierungsstrategien, die auch Videokonsultationen beinhalten. Dabei wird u.a. geschaut, welche Software am besten geeignet ist, was am User*innen-freundlichsten ist, wie man aus dem Gespräch einen Arztbrief extrahieren kann. Zum Thema Videokonsultation wird übrigens auch in Kürze eine Publikation herauskommen.

Sie haben auch die VOICE-Studie durchgeführt, die Wünsche und Bedürfnisse der österreichischen Bevölkerung zur hausärztlichen Versorgung in Österreich analysiert hat. Welche wesentlichen Ergebnisse sind denn dabei herausgekommen?

K. Hoffmann: Um den bereits genannten 360-Grad-Blick zu haben, wollten wir auch die Patient*innen proaktiv befragen, was sie sich von der hausärztlichen Versorgung im Falle einer Primärversorgungsreform wünschen würden. Obwohl sie ja als Betroffene eigentlich im Mittelpunkt stehen, werden sie relativ wenig in den Entscheidungsprozess eingebunden. In anderen Ländern ist dieses „patient involvement“ bereits viel besser verankert. Das Spannende an der Studie war, dass die Patient*innen zum Großteil mit den internationalen Kriterien, die es zu guter Primärversorgung gibt, übereinstimmen. Sie sprechen zum Beispiel genau dieses Thema der Konsultationszeit an und erkennen auch, dass es nicht vorrangig an den Ärzten und Ärztinnen liegt, das zu ändern, sondern dass dafür höhere Ebenen wie Krankenkassen, Ärztekammern, Länder und Bund verantwortlich sind. Zusammengefasst: Wenn sich die Politik in Hinblick auf Verbesserungen an den wissenschaftlich fundierten Kriterien wie Zeit und Finanzierung orientiert, würde sie auch bei den Patient*innen offene Türen einrennen.

Welche weiteren Studien sind in Ihrer Abteilung in nächster Zeit geplant?

K. Hoffmann: Im Moment starten die Projekte zu Long Covid bzw. dem Post-Covid-Syndrom, auch die ME-CFS-Erkrankungen (myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom) werden dabei in den Fokus genommen. In den Startlöchern steht zudem eine Kooperation mit der Notfallmedizin am AKH Wien sowie die Auswertung einer Telemedizin-Studie in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband der österreichischen Psycholog*innen. Weiters untersuchen wir die Businessstrukturen von Primärversorgungseinheiten, ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Rolle der Frauen und wie familienfreundlich diese neuen Zentren sind.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

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